Rachel und Lea (Gustav Doré) |
Die wissenschaftliche Anthropologie ist sich heute sicher, daß die zweite Auslegung richtig ist. Genetische Untersuchungen der unterschiedlichen Varietät der nur von der Mutter an ihre Kinder vererbten mitochondrialen DNA und des nur von dem Vater an den Sohn vererbten nicht rekombinierenden Y-Chromosoms zeigen, daß wir doppelt so viel Urmütter als Urväter haben. Das gibt nur dann einen Sinn, wenn man annimmt, daß in der Vergangenheit - wir sprechen von einem Zeitraum von 100.000 Jahren - die Hälfte aller Männer von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren. Es fand also eine sexuelle Selektion statt. Und diese Wahl trafen die Frauen, nicht die Männer - so die Anthropologie.
Behalten wir das im Hinterkopf und lesen die Geschichte von Jakob, Leah und Rachel.
Jakob flüchtet, nachdem er seinen Bruder (oder, nach anderer Lesart, Halbbruder) Esau mit Unterstützung seiner Mutter Rebecca um sein Erstgeburtsrecht und auch noch um den väterlichen Segen betrogen hat, zu seinem Onkel Laban. Erstens weil ihm sein Bruder Esau gedroht hatte, ihn umzubringen, wofür auch der Chronist der Bibel ein gewisses Verständnis zeigt, und zweitens, weil er seine Frau nicht unter den Töchtern Kanaans, sondern unter den Töchtern Labans suchen wollte.
Er traf auf Leah und Rachel. "Sed Lia lippis erat oculis, Rachel decora facie et venusto aspectu" berichtet uns die Vulgata. (Genesis 29, 17). Lia (Leah) war triefäugig, Rachel dagegen hatte ein hübsches Gesicht und eine schöne Gestalt.
Die rabbinische Exegese hat da eine etwas andere Sicht der Dinge. Triefäugigkeit (Blepharitis) ist eine chronische Erkrankung des Lidrandes. Kaum vorstellbar, daß Jakob mit einer dermaßen entstellten Frau sechs Söhne und eine Tochter gezeugt hätte. Raschi, der berühmte jüdische Exeget der Schrift meint, daß Leah schlicht verheult war. Sie war nämlich als die ältere Tochter als Frau von Jakobs Bruder Esau ausersehen. Der aber habe (so Raschi) eine schlechten Ruf als Heide und Ehebrecher besessen. (Rashi schließt da möglicherweise vom Stamm der Edomiter auf ihren Urvater Esau). Eine Wahl, über die Leah so unglücklich war, daß sie garnicht mehr aufhören wollte, zu weinen.
Rachel, die die Schafe zur Tränke trieb, kam nun Jakob am Brunnen als erste entgegen - unverschleiert und ohne Walle-Walle-Kleidung wie zu dieser Zeit üblich - und gab ihm auch noch einen Kuß. Jakob verliebte sich und hielt um die Hand Rachels an. Eine Wahl, über die Laban nicht erfreut, aber vor allem Leah sehr, sehr unglücklich war. Laban schob bekanntlich in der Hochzeitsnacht Leah seinem Schwiegersohn Jakob unter, und als der am Morgen neben Leah aufwachte und sich beschwerte, verlangte Laban, daß Jakob zunächst weitere sieben Jahre zu dienen habe, bevor er auch Rachel heiraten dürfe.
Lassen wir das mal auf uns wirken. Hatte Rachel das Zusammentreffen am Brunnen arrangiert? Ziemlich sicher, denn auch die Bibel stellt es als ungewöhnlich dar, daß eine Frau die Schafe zur Tränke treibt. Und bestimmt hatte sie dafür gesorgt, daß ihr hübsches Gesicht und ihre schöne Gestalt angemessen zur Kenntnis genommen wurden. Ein Begrüßungskuß war unter Verwandten üblich, hier diente er mit Gewißheit einem weiteren Zweck.
Steckte hinter dem Schwindel in der Hochzeitsnacht nur Laban? Es war ungehörig, um eine jüngere Tochter zu werben, wenn die ältere noch unverheiratet war. Aber wie jeder andere gute Vater, rührte Laban auch das Liebesleid seiner Tochter Leah, die sich vor Unglück die Augen ausheulte. Es spricht einiges dafür, sagt der Kriminalist, daß vor allem Leah das stärkste Motiv für diesen Betrug hatte.
Nach jedem Sohn, den Leah Jakob gebar, hoffte sie, nun werde sich Jakob ihr doch zuwenden. Auch der HERR, dem es mißfiel, daß Jakob nur eine seiner beiden Frauen wirklich liebte, schlug sich auf Leahs Seite, indem er Leah fruchtbar, Rachel aber unfruchtbar machte. Die Namen ihrer vier ersten Söhne geben Leahs Hoffnung Ausdruck: Ruben - Sohnessicht; Simon - Erhörung; Levi - Anlehnung; Juda - Danksagung. Nun war es an Rachel, da sie keine eigenen Kinder bekam, nötigte sie Jakob - der ,, to say the least, nicht ganz damit einverstanden war - mit ihrer Sklavin Bilha Kinder zu zeugen: Dan - Urteiler; Naftali - Wettkämpfer. Auch Leah, die eine Gebärpause einlegt, greift nun zum selben Mittel. Jakob soll mit ihrer Sklavin Silpa Kinder zeugen. Gad - Glück und Ascher - Selig.
Jakob scheint von diesem Gebärkampf etwas ermattet gewesen zu sein, denn als Ruben bei der Feldarbeit Alraunen findet, die nach antikem Glauben als Liebeszauber dienen können, erbittet Rachel von Leah, daß sie ihr von diesen "Minneäpfeln" wie sie Buber nennt, etwas abgibt. Leah reagiert erbost. Rachel habe ihr bereits ihren Mann abspenstig gemacht, nun wolle sie auch noch die Alraunen haben.
Rachel handelte darauf mit Leah aus, daß sie die Alraunen bekommt, Leah dafür mit Jakob schlafen darf. Die folgende Szene im Wortlaut: "Als Jakob des Abends vom Feld kam, trat ihm Lea entgegen und sprach: Zu mir mußt Du kommen, denn ausbedungen habe ich dich um die Minneäpfel meines Sohnes." (Buber, Die Schrift, 30, 16). Und Lea gebar ihm zwei weitere Söhne: Jisachar - Gedingelohn und Sbulun - Aufrichtung. Schließlich noch eine Tochter - Dina.
Es stand in etwa nun 10 zu 2 gegen Rachel und endlich hatte der HERR Gnade mit ihr und sie gebar Josef - der Herr richtet mich auf.
War nun Frieden? Nein, wie wir wissen, wollen die Söhne von Bilha, Silpha und ein Teil der Söhne Leahs, Rachels Sohn Josef umbringen und lassen sich gerade noch von den mit Josef näher verwandten Söhnen Ruben und Juda davon abbringen. Juda rettet ihm das Leben, indem er die Sippschaft dazu bewegt, ihn nur als Sklaven zu verkaufen.
Fassen wir also zusammen: Jakobs Mutter ist daran beteiligt, ihrem Lieblingssohn Jakob den Segen Isaaks zu verschaffen. Rachel sorgt dafür, daß Jakob sie als erste trifft und ihr ganz nahe ist - Nahkampf. Leah setzt Tränen ein, um Esau nicht heiraten zu müssen, sondern Jakob heiraten zu dürfen. Die beiden Frauen kämpfen mit allen Mitteln um den gemeinsamen Mann, Leah zettelt einen Gebärwettstreit an, Rachel setzt auf Liebeszauber.
Und Jakob? Hat offenbar nicht viel zu sagen.
Die Wissenschaft von der Anthropologie sagt uns, daß wir uns so in etwa die menschliche Vorgeschichte vorstellen müssen.
Die Bibel zeigt uns, daß die monogame Ehe mindestens die friedlichere Variante des ehelichen Zusammenlebens sein muß. Denn die stets nicht ganz freiwillige Polygynie der Erzväter hat ihnen eine ganze Menge Zank und Streit gebracht.
Monogamisch ist übrigens die Bezeichnung der Anthropologen für die mutmaßlich vorherrschende Lebensweise der Menschheit. vorwiegend monogam, aber strecken- und zeitweise polygyn. Übrigens niemals polyandrisch.
Wer die Polygnie übrigens für eine Männerfantasie hält, sollte sich die Berichte der Bibel näher ansehen.
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